Erster Feier.Tag: Die Geschichte vom stolzen Turm.

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Der Kirchturm in Muri ist stolz. Weit über sein Dorf kann er blicken. Er sieht und erlebt die Veränderungen der beiden Dörfer Muri und Gümligen aus luftiger Höhe. Ehemals wurde die Kirche dem Erzengel Michael geweiht, nun steht sie schon seit 1000 Jahren so prominent mitten im Dorf. Was hat sie nicht alles erlebt. Von der Gründung bis heute. Freud und Leid, Taufen, Hochzeiten aber auch Beerdigungen wurden in ihr gefeiert. So viele, dass sie schon lange nicht mehr mitzählt.
Selbst die Reformation, welche vor 500 Jahren Europa in Aufruhr versetzte, konnte ihr nichts anhaben. Klar, es gab Korrekturen. Bilder wurden weiss übermalt, Kirchenfenster ersetzt und mit der Zeit gab es auch Veränderungen am Kirchenturm selbst. Aber trotz allen Wirren, Hochs und Tiefs steht sie da. Doch irgendetwas ist anders. Das hat sie bemerkt.

Angefangen hat es im Kleinen. Es gab etwas weniger Gottesdienste, etwas weniger Trauungen, Taufen und Beerdigungen. Irgendeinmal wurde diskutiert, dass die Zahl der Mitglieder von 6000 Reformierten so massiv gesunken sei, dass sich die letzten Reformierten in Muri und Gümligen die Kirche nicht mehr leisten könnten und stattdessen nur noch ins Münster nach Bern ziehen sollten.

Die Kirchen im Kanton Bern werden umgenutzt. Wie schon vor 500 Jahren bei der Reformation schaut man, wie man diese alten Gebäude neu nutzen kann. Bibliotheken, Museen oder Wohnungen werden aus den Kirchen gemacht. Einige werden sogar zu Denner-, Volg- oder Lidlfilialen umfunktioniert.

Kirche Muri
Was mit der Kirche Muri geschehen soll, weiss der Kirchturm nicht. Es schaudert ihn aber, wenn er sich vorstellen muss, dass dort bald keine Menschen mehr ein- und ausgehen, sondern nur noch «Dinge» verkauft werden. Die Kirche gehört den Menschen, denkt sich der Kirchenturm. Kirche ohne Menschen kann es doch nicht geben. Ich muss etwas unternehmen.
Der Kirchturm nimmt also all seinen Mut zusammen und geht. Er lässt den Rest der Kirche zurück und sucht sich einen Ort, an dem er ganz nahe bei den Menschen sein kann. Kirche nahe bei den Menschen?

Muri Gemeindehaus mit Kirchturm
Zuerst geht er nur wenige Schritte. Im Gemeindehaus von Muri werde ich sicherlich einen Platz finden, denkt er sich. Dort, in diesem Haus arbeiten viele Menschen. Und sofort setzt er sich auf den Spitz des Gebäudes
Es geht nicht lange, da merkt der Turm, dass es zwar Menschen gibt, die sich durchaus dort aufhalten, die meisten davon sind aber so in Eile, rechtzeitig aufs Tram zu kommen, noch rasch ein leckeres Kaffee im Muri-Snack zu trinken oder Geld bei der Bank abzuheben, dass sie den Turm gar nicht bemerken. Zwar sind die Leute von der Gemeindeverwaltung freundlich zu ihm und schätzen sein Zifferblatt, welches ihnen exakt und pünktlich die Uhrzeit anzeigt. Doch auch sie sind mit ihrer Arbeit so beschäftigt, dass kaum mehr als ein Blick auf das Zifferblatt möglich ist, danach müssen sie, wie es der Name schon sagt, eben die Gemeinde wieder verwalten.

Thoracherhus
Dem Kirchturm gefällt das nicht, und so macht er sich auf den Weg in den Thoracher. Dort, so erzählt man sich, gibt es ein Kirchgemeindehaus. Dort wird er sicherlich geschätzt.
Dort angekommen, ist er zuerst angetan von der Gegend. In den vielen Hochhäusern gibt es sehr viele Menschen. Alt und jung sind dort zusammen und leben in einer Gemeinschaft, welche stets bemüht ist, die anderen zu respektieren und auf das vis-à-vis zu hören, egal welcher Kultur, Religion oder Nationalität das Gegenüber ist. Auch der leckere Duft der Pizza stimmt unseren Kirchturm zufrieden. Leider bleibt diese Zufriedenheit nicht lange. Obwohl es im Thoracher eigentlich wunderbar ist, verschwindet der Kirchturm hinter den grossen Betonhochhäusern. Das will unserem Turm nicht so recht gefallen. Immerhin ist er sich gewöhnt, immer der höchste Turm in der Umgebung zu sein. Etwas widerwillig, aber dennoch wild entschlossen, zieht er weiter.

Beim Bahnhof Gümligen gefällt ihm zuerst das muntere Treiben. Er kann viele Trams und Züge beobachten. Doch dort, zwischen den modernen und «aufgeräumten» Bauten, fällt der alte Kirchturm auf. Und bei einem Bahnhof ist sogar sein Zifferblatt überflüssig. Wenn es etwas zur Genüge auf Bahnhöfen gibt, dann sind es Uhren. Nein, auch wenn er hier Menschen um sich hat, will er da nicht bleiben. Es ist ihm zu modern und zu anonym.

Schon etwas verzweifelt lässt er sich in der Aare treiben und sucht nach einer neuen Bleibe. Wo kann ich nur hin, fragt sich der Turm? Ich kann hier ja nicht bis nach Bern treiben. Dort gibt es ja schon andere wie mich, welche ebenso auf der Suche nach neuen Formen von Kirche sind.

Muribad mit Kirchturm
Doch plötzlich, schon fast in seinen melancholischen Gedanken versunken, hört er Kinderlärm und ausgelassenes Lachen. Schnell eilt der Turm dorthin, wo er das Lachen vermutet. Er landet im Muribad. Es ist Sommer und die Jugendarbeit unter Jacinto und die Kirchgemeinde mit Belinda führen ihre alljährlich stattfindende «Muribadwoche» durch. Eine Woche, in der Kinder wieder Kinder sein dürfen, wo sie spielen, lachen, baden und das Leben einfach geniessen können. Das gefällt unserem Turm. «Da bleibe ich. Da gehöre ich hin». Das wusste er! Wo Kinder lachen und Eltern zufrieden Glace schlecken, wo Teenager sich im Fuss- und Volleyball versuchen, dort wo man merkt, hier ist Leben. Da will ich als Kirche sein. Und er lässt sich nieder. Doch vielleicht erahnt ihr, was geschieht.

Die Muribadwoche, so schön sie auch ist, neigt sich dem Ende zu und die Kinder müssen zurück in die Schule und ihre Eltern wieder zurück in ihren Beruf. Das Muribad wird ein leerer und öder Ort. Genau so wie die Kirche, die der Turm doch verliess.

Doch, was sollte nun aus unserem Kirchturm werden? Nein, in dieser Tristesse lassen wir unsere kurze Geschichte nicht enden. So lassen wir unseren Kirchturm noch ein letztes Mal nach einer Gemeinschaft suchen und ihn am 19.1.2020 zufällig in diesem Kirchgemeindehaus vorbeischauen. Er wird sehen, dass sich hier Menschen versammeln, welche Gemeinschaft untereinander leben und sich über ein leckeres Essen nach dieser Geschichte freuen. Menschen aber auch, welche dem Transzendenten in ihrem Alltag einen Platz einräumen. Menschen, wie Sie und ich, wie du und er, wie sie und alle. Menschen. Perfekt unperfekt. So, wie Menschen halt sind.

Feier.Tag (Foto: Christoph Knoch)
Eine Kirche braucht weder einen Turm noch einen Chor. Eine Kirche braucht weder Kanzel noch Taufstein. Eine Kirche braucht Menschen, die eine Gemeinschaft leben wollen. Nicht mehr aber auch nicht weniger.

Und diese Gemeinschaft von Menschen sind wir. Selbstverständlich wird es unsere beiden Kirchen in Muri und Gümligen noch lange geben. Selbstverständlich werden Sie auch in Zukunft nicht ins Münster nach Bern gehen müssen, wie die Geschichte weismachen wollte. Unsere beiden Kirchen bleiben im Dorf. Aber Veränderungen sind wichtig. Die Reformierte Kirche muss sich immer wieder reformieren, wenn sie eine wichtige Stimme in der Gesellschaft bleiben will. Und das will sie. Aus diesem Grund macht sich unsere Kirche auf. Nicht als Gebäude, welches sich plötzlich von der Thunstrasse wegbewegt, sondern «nur» symbolisch. Wir, als Kirchgemeinde, wollen weg von alten einengenden Dogmen und Mauern, hin zu den Menschen. Dafür darf diese Geschichte stehen und dafür steht unser neues Feierkonzept. Der Feier.Tag.

Sebastian Stalder